"Durch die Fotografie nehme ich mir meinen Anteil am sogenannten Sehenswerten”.

Die Welt wird erblickt durch die Optik der Kamera und die Aufnahme ist Beleg für die Präsenz vor Ort, für das „tatsächlich“ Gesehene. Touristen fotografieren deshalb geradezu zwanghaft das, was in der Regel bereits häufig fotografiert, ja zu Tode fotografiert worden ist. Von der Rhetorik der Bilder verlangt man eine rein dokumentarische Qualität und erst durch die bildhafte Ausbeute des Kamerablicks wird interessant, wo man sich befunden hat. Wenn Torsten Mitsch fotografiert, hat sich die Perspektive verkehrt. Nicht das Objekt der Fotografie ist relevant, sondern die Tatsache, dass das Objekt von Mitsch gesehen wurde. Erst durch diesen subjektiven Anteil offenbart das mechanische „Abschatten der Wirklichkeit“ seine paradoxe Doppelnatur: Durch das Ablichten über die Realität hinaus wird das fotografische Bild zur Metapher oder zum Symbol für einen Zusammenhang, der die authentische Wiedergabe des unmittelbar Anschaulichen weit übersteigt. Die fotografische Notation richtet sich an das Gedächtnis, beschwört die Vergangenheit der Gegenwart, da das, was anschaulich festgehalten wurde, im Bild anwesend und zugleich abwesend ist. So zeigt jede Fotografie einen Zustand von Welt, wie er nicht mehr existiert. So ist in jeder Fotografie unweigerlich eine Ahnung von Tod eingeschrieben. Mitschs Motive unterstreichen diese Struktur des fotografischen Mediums, zeigen sie doch die Desolatheit der „Kulissen“, die einst die wirtschaftliche Grundlage für vielerlei Modernismen bildeten. Seine Orte wirken wie Endstationen, sind eingebettet in die Tristesse einer technischen Zivilisation, die an ihr Ende gekommen zu sein scheint. Es ist eine symbolische Welt, gerade weil sie so pathetisch die reine Äußerlichkeit betont. Vieles spielt in einer Art Zonenrandgebiet, in der unsicheren verunsichernden „Twilightzone” aus Realität, Trivialität und Trauma, in der konsequent keine Menschenseele auftaucht. Dabei sind diese bizarren Grotten des Zerfalls immer erfüllt von Spuren und Zeichen, von Objekten und Graffitis: leere Signifikanten, Namen ohne Intimität, totemistische Benennungen, die aufgrund ihrer Armut jeder Konnotation und Interpretation widerstehen und Mitschs Fotografie zu einer „Anwesenheit von Abwesenheit“ machen. Wie Standbilder eines Kinofilms wirken viele seiner Arbeiten, angehaltene Szenen voller Indizien und Fährten, die von einer geheimnisvollen Dramaturgie durchdrungen sind. Der Betrachter wird angeregt, neugierig zu werden auf das Davor und Danach, aber sich letztlich nur mit Stimmungen zufrieden geben muss.

Was in den Kinderjahren der Fotografie noch den Rang einer Entdeckung besaß, die Erkenntnis nämlich, dass auch die Fotografie die Wirklichkeit nicht objektiv abbildet, sondern durch Bildausschnitt, Belichtungszeit oder die Wahl des Blickwinkels subjektiv transformiert, ist für die jüngsten Fotokünstler Gemeinplatz geworden. Auch die Grandezza und die abschreckend kritische Perspektive einer verkommenen Industrielandschaft gehören längst zum ikonischen Bildvorrat des Jahrhunderts. Es ist ein Spiel mit verwandten Motiven, mit Blickwinkeln und Bildausschnitten, welches der sichtbaren Wirklichkeit die Treue hält und je nach historischem Zeitpunkt die ästhetische oder kritische Intention favorisiert. Die Bildstrategie von Mitsch orientiert sich ebenfalls an der Wirklichkeit, nur bekommen die spezifischen Grisaille-Töne und die zwielichtige Atmosphäre seiner Orte, im kulissengünstigen Gegenlicht, die Aura scheinbar romantischer Illuminationen, die dem Wirklichen einen fantastischen Anklang geben und das Fantastische real erscheinen lassen.

Der Fotograf inszeniert nicht, gibt die Distanz zu den zu fotografierenden Motiven auf, erfasst die Dinge aus ungewöhnlichen Perspektiven, die ungewöhnliche Zusammenhänge herstellen und nicht minder ungewöhnliche Deutungen nahe legen. Am Signifikantesten sind die Farben, die die alltägliche fotografische Gegenwart, die Ikonografie des Alltags derart verfremden, dass manchen trivialen Gegenständen eine ferne mythische Vergangenheit beglaubigt werden kann.

Diese Art von Inszenierung der Realität gibt nicht nur den Motiven des Zerfalls, sondern auch dem Sperrmüll eine derart künstlich surreale Aura, dass man eher an die Land-Art Walter de Marias erinnert wird. Torsten Mitschs spätromantischer Symbolismus erfasst Natur und Kultur, High-Tech und Zerfall als eine alltägliche, aber zunehmend surreal durchpulste Wirklichkeit. Seine Bilder verführen. Sie appellieren nicht an die Vernunft, sondern an die Sinnlichkeit eines Publikums, welches in der imaginativen Leistung des Betrachters, in der schöpferischen Imagination den ästhetischen Zugewinn sieht. Dem Sichtbaren ein Bild abzugewinnen, welches es in der abgebildeten Wirklichkeit nicht gibt, täuscht nicht vor, ein Stück unverstellter Wirklichkeit zu demonstrieren, sondern simuliert vielleicht eine Realität, in der Wunsch und Wunscherfüllung eins sind.

Werner Marx